Neben einem platten Reifen gibt es beim Radfahren wohl keinen größeren Abtörner als Schmerzen auf dem Fahrrad. Doch was sind eigentlich die häufigsten Schmerzen beim Fahrradfahren, wo kommen diese her und, am wichtigsten: wie kann man sie vermeiden? Diesen Fragen sind wir gemeinsam mit den Ergonomie-Experten von Ergon für unser großes Ergonomie-Special auf den Grund gegangen.
Video: Schmerzen auf dem Fahrrad – So bekämpfst du sie wirksam
Die häufigsten Schmerzen auf dem Fahrrad
Allein die Berichte aus meinem näheren Bekanntenkreis über Schmerzen während und nach dem Fahrradfahren sind mannigfaltig. Und auch wir kennen es von unseren eigenen Ausfahrten – obwohl man nun schon einige Lebenskilometer auf dem Buckel hat, tut selbiger oder auch die Hand, der Fuß oder Popo immer mal wieder weh. Doch welches sind eigentlich die häufigsten Schmerzen, die beim Fahrradfahren auftreten können?
Die Produktentwicklerinnen und -entwickler von Ergon haben sich auf die Fahne geschrieben, ergonomische Produkte zu entwickeln, mit deren Hilfe Schmerzen beim Radfahren vermieden werden sollen. Wen könnte man da also besser fragen als die Ergonomie-Experten selbst? Und genau das haben wir getan.
Die Koblenzer Ergonomie-Experten blicken auf 20 Jahre Erfahrung in der Entwicklung von ergonomischen Kontaktpunkten, wie Sättel, Griffe und Pedale zurück und um herauszufinden, wie sie diese am besten auf den Menschen anpassen können, führen sie regelmäßig Studien durch. Und in einer dieser Studien gaben tatsächlich 95 % der Befragten an, dass sie regelmäßig Schmerzen beim Fahrradfahren entwickeln.
Am häufigsten – und zwar bei über 60 % der Befragten, kommen demnach Schmerzen beim Sitzen vor. Der Rest klagte vor allem über Schmerzen beim Greifen, sprich Hand-, Handgelenks-, Arm- und Schulter- beziehungsweise Nackenprobleme. Woher diese kommen und wie du sie am besten vermeiden kannst, möchten wir dir im Folgenden erläutern.
Welche Arten von Schmerzen treten beim Sitzen auf?
Beim Radfahren auf dem E-Bike, Faltrad oder Lastenrad verbringen wir die meiste Zeit sitzend im Sattel. Verglichen zu den anderen Kontaktpunkten am Rad, lastet auf dem Sattel das meiste Gewicht. Aus diesen Gründen ist es hinderlich und der Freude am Radfahren absolut nicht zuträglich, wenn sich im Gesäßbereich während der Fahrt Schmerzen entwickeln.
Um herauszufinden, woher diese kommen und wie man sie abstellen kann, ist es zunächst einmal wichtig sie klar zu definieren. Die Ergonomie-Spezialisten von Ergon unterscheiden dabei drei grundlegende Arten von Schmerzen, die beim Sitzen auf dem Fahrradsattel auftreten können:
- Reibungs- und Druckschmerz an der Außenkontur: Ein erhebliches Problem ist der Reibungs- und Druckschmerz, der an der Außenkontur des Sattels entsteht, wenn dessen Form nicht optimal zur individuellen und geschlechtsspezifischen Anatomie passt oder ungünstig positioniert ist.
- Sitzhöckerschmerz: Ein weiteres häufiges Problem ist der klassische Sitzknochenschmerz, der dann auftritt, wenn der Sattel nicht für eine gleichmäßige Druckverteilung am Gesäß sorgt und somit Beschwerden im Bereich der Sitzhöcker verursacht.
- Schmerzen und Taubheit im Urogenitalbereich: Besonders gravierend sind Schmerzen und Taubheit im Genitalbereich. In diesem Bereich verlaufen wichtige Venen und Arterien, welche die Anatomie des Menschen mit Blut versorgen. Wenn der Sattel diesen Bereich zusammendrückt, kann es zu ernsthaften Schmerzen bis hin zu Taubheit kommen.
Schmerzen beim Sitzen vermeiden
Um die drei wesentlichen Probleme beim Sitzen auf dem Fahrrad – Reibungsschmerz, Sitzknochenschmerz und Taubheit – zu lösen, spielt der Fahrradsattel die zentrale Rolle. Aber wie will er allein es schaffen, Druckstellen, Reibungsschmerz oder Taubheit vorzubeugen? Worauf muss ich selbst bei der Einstellung des Fahrradsattels achten und welche Sattelgröße ist eigentlich die richtige? Viele Fragen, hier kommen die Antworten.
Die richtige Satteleinstellung
Die richtige Einstellung des Sattels ist von entscheidender Bedeutung für ein angenehmes Fahrerlebnis auf dem Rad. Dabei beeinflussen sowohl die Sitzhöhe als auch die Neigung des Sattels maßgeblich seine Funktionalität. Was die richtige Sattelhöhe anbelangt, findet man im Netz verschiedene Herangehensweisen, diese zu ermitteln. Unsere bevorzugte Methode deckt sich dabei mit der Vorgehensweise, welche auch von den Ergonomie-Experten und Expertinnen von Ergon herangezogen wird:
Man setze sich auf das Fahrrad, welches von einer weiteren Person, mit beiden Händen am Lenker und der Testperson zugewandt fixiert wird, stelle sich mit Schuhen auf die Pedale und bewege die Ferse in die Mitte des Pedals. Ist das Bein nun komplett gestreckt, ist in der Regel die richtige Sattelhöhe für den Fahrer oder die Fahrerin gefunden und es kann zum nächsten Schritt weiter gehen.
Um die richtige Sattelneigung zu finden, sollte man zuerst von einer waagerechten Einstellung des Sattels ausgehen. Dies stellt man am besten mit einer Wasserwaage fest. Was erst einmal etwas übertrieben und extrem wissenschaftlich klingt, ist eigentlich ganz einfach und essenziell wichtig für die richtige Satteleinstellung.
Denn von dieser waagerechten Position aus wird in den meisten Fällen kaum mehr nachgebessert und wenn, dann wird die Nase des Sattels noch etwas angehoben. Eine negative Neigung des Fahrradsattels – also Spitze nach unten – macht aus medizinischer wie biomechanischer Sicht keinen Sinn und sollte vermieden werden. Sollten dann noch Beschwerden auftreten, liegt es eventuell an der Position des Sattels auf der Sattelstütze – hier kann es helfen, den Sattel ausgehend von der Mittelstellung noch mal ein paar Millimeter vor- oder zurückzuschieben.
Richtige Sattelgröße
Zwickt es nach der Einstellung der richtigen Sattelhöhe und -position immer noch, wurde eventuell nicht die richtige Sattelgröße gewählt. Neben der geschlechterspezifischen Eignung, auf die wir weiter unten noch eingehen, ist vor allem die Größe des Fahrradsattels für den Fahrkomfort entscheidend.
Um die richtige Sattelgröße zu finden, benötigst du zunächst deinen Sitzhöckerabstand. Während es Mittel und Wege gibt, dies auch daheim zu bewerkstelligen, empfiehlt sich die digitale Messemethode von Ergon, verfügbar beim Ergon-Händler in deiner Nähe, als die genaueste.
Hast du einmal deinen Sitzhöckerabstand gemessen kannst du zum Beispiel über den Saddle Selector von Ergon gehen, um den für deinen anvisierten Einsatzbereich richtigen Sattel in der richtigen Größe zu finden, oder du wählst dir anhand der Größentabelle direkt die richtige Größe für dein favorisiertes Sattelmodell aus.
Ergon bietet Sättel in Größen von S/M und M/L an. Welche Sattelbreiten für wen geeignet sind, hat Ergon ebenfalls im Rahmen von über 10.000 Druckmessstudien ermittelt. Dabei zeigte sich, dass sich 90% der Radfahrenden in Anatomien einteilen lassen, die mit 9 cm bis 12 cm Sitzknochenabstand oder mit 12 cm bis 16 cm optimal entlastet werden. Dies spiegelt sich bei Ergon in den Größen S/M und M/L wider.
Geschlechterspezifische Sättel
Die geschlechtsspezifische Anpassung der Sattelform ist ein Markenzeichen Ergons und basiert, wie auch die Größeneinteilung der Sättel, auf fundierten Erkenntnissen, die durch umfangreiche Studien gewonnen wurden. Die geschlechtsspezifische Feinabstimmung der Sattelform soll beiden Geschlechtern Vorteile bringen. Übergeordnetes Ziel dabei ist es, durch die Anpassung die Oberfläche des Sattels so zu optimieren, dass die Druckverteilung möglichst homogen ist – für Mann und Frau.
In einer Studie, mit über 10.000 Sitzdruckmessungen, konnten mithilfe von CT-Scans verschiedenste Beckenformen und Beckenkippungen analysiert werden. Diese Untersuchungen ergaben, dass Frauen anatomisch bedingt weniger Platz für ihre versorgenden Gefäße haben und tendenziell weiter nach vorn gebeugt sitzen als Männer.
Auf dem Genitalbereich lastet somit ein hoher Druck, weshalb die Gestaltung des Entlastungsbereichs bei Frauen eine spezifische Herangehensweise erfordert, welche in einem lang gezogenen Cutout im vorderen Bereich des Sattels resultiert. Ein Beispiel für einen solchen Damensattel ist etwa der ST Core Evo Women, der sich besonders an Tourenfahrerinnen richtet.
Doch auch Männer können unterschiedliche Anatomien aufweisen und ähnliche Sitzprobleme haben. Bei Männern liegt die Schambeinfuge höher und die Schambeine stehen steiler als bei Frauen. Dabei steht das Becken im Sattel aufrechter und der sensible Dammbereich wird stärker beansprucht.
Somit verfügt der Ergon Männersattel über eine Öffnung, die sich im hinteren Teil des Sattels befindet und für eine Entlastung des mittleren Gesäßbereichs sorgt. Ein solcher männerspezifischer Fahrradsattel ist etwa der SF Sport Gel Men, welcher sich besonders an sportliche E-Biker und Tourenfahrer richtet.
Dämpfung am Sattel – schont Po und Rücken
Eine weitere Problemzone im Zusammenhang mit dem Sitzen auf dem Fahrrad ist der untere Rücken. Um diesen zu entlasten, hat Ergon kürzlich ein innovatives Sitzkonzept entwickelt, das die natürlichen Bewegungen des Körpers während des Pedalierens nachempfindet. Dabei wurde die Satteloberfläche der Ergon Core 3D-Sattelserie so gestaltet, dass sie die seitliche Kippbewegung des Beckens während des Tretens unterstützt.
Diese Bewegung soll das Kreuzbeingelenk im unteren Rücken mobilisieren und damit Rückenschmerzen im unteren Rückenbereich, die oft durch eine falsche Alltagsbelastung entstehen und sich beim Radfahren verfestigen können, kompensieren. Dieses Konzept wurde sogar vom AGR (Aktion Gesunder Rücken e.V.) als rückenschonend zertifiziert.
Der Kern der Core 3D-Technologie besteht aus E-TPU Infinergy von BASF, einem speziellen Material, das sich durch eine hohe Rebound-Fähigkeit auszeichnet. Dieses Material wird als vollflächiger Dämpfer auf der unteren Schale des Sattels platziert. Auf diesem Core-Material befindet sich eine obere Schale, die den Druck gleichmäßig auf den Sitzschaum verteilen soll.
So soll der Sattel den Bewegungsspitzen beim Pedalieren zunächst ausweichen, dann aber schnell wieder in seine Ausgangsform zurückkehren. Dadurch kann der Sattel die seitliche Bewegung des Beckens aktiv unterstützen und somit den unteren Rücken entlasten. Diese Dynamik führt in weiterer Folge dazu, dass der untere Rücken mobilisiert und etwaige Verspannungen gelöst werden, beziehungsweise gar nicht erst auftreten.
Welche Arten von Schmerzen treten beim Greifen am Lenker auf?
Nach Schmerzen beim Sitzen treten auf dem Fahrrad am häufigsten Schmerzen beim Greifen, also an der Hand oder dem Handgelenk und im Schulter-Nackenbereich auf. Das liegt daran, dass die abstützende Haltung der Hände während des Radfahrens anatomisch gesehen nicht optimal für den Menschen ist, da einfach nicht so vorgesehen. Bei Ergon unterscheidet man grundsätzlich drei verschiedene, damit einhergehende Probleme, beziehungsweise Schmerzen:
- Taubheit an Fingern und Handballen: Im Vergleich zum Körpergewicht hat die Hand eine relativ kleine Fläche, was zu einer hohen Druckspitze unter der Mittelhand führt. Anatomisch ist die Mittelhand aber nicht für solche Belastungen ausgelegt. Viele kennen das Karpaltunnelsyndrom, bei dem die Nerven, die direkt unter der Mittelhand verlaufen, komprimiert werden. Das führt dazu, dass insbesondere der Mittel-, Zeigefinger und Daumen taub werden. Ein weiterer wichtiger Nerv verläuft entlang der Außenseite der Hand und ist für den Ring- und kleinen Finger zuständig. Je nach Handposition und der entsprechenden Druckspitze beim Greifen des Fahrradlenkers können so auch der kleine Finger oder der Ringfinger taub werden.
- Schmerzen am Handgelenk und Unterarm: Einige Radfahrende klagen außerdem über Schmerzen im Handgelenk und Unterarm. Diese werden häufig durch ein Abknicken der Handgelenke verursacht, was fast immer in einer falschen Haltung auf dem Fahrrad begründet liegt. Ebenso wie ein Abknicken der Hände zu Schmerzen in den Handgelenken führen kann, führt eine umgekehrte Überstreckung des Handgelenks zu Schmerzen, die bis in den Unterarm ziehen können.
- Schulter- und Nackenbeschwerden: Eine schlechte Druckverteilung sowie Haltung und damit einhergehende dauerhafte Schonhaltung beim Greifen, bei welcher die Schultern hochgezogen werden und der Kopf fallen gelassen wird, kann außerdem zu unangenehmen Schulter- und Nackenschmerzen führen, die auch schon mal bis in den Kopf strahlen können. Häufig wird dabei ein bereits bestehender Schreibtischschmerz mit aufs Rad genommen und verschlimmert.
Schmerzen beim Greifen vermeiden
Du hast deine Schmerzen in der Sitzzone erfolgreich abgestellt und ärgerst du dich nun noch mit Problemen beim Greifen herum? Dann erfährst du im Folgenden, wie du auch noch deine Hand-, Handgelenks-, Nacken- und Schulterschmerzen beim Fahrradfahren in den Griff bekommst.
Die richtige Griffgröße und -form
Eine bewährte Lösung für das Problem der tauben Finger beim Radfahren ist der Einsatz eines Flügelgriffs – das Produkt, mit dem Ergon vor 20 Jahren erstmals an den Markt ging. Durch die ergonomische Form dieses Griffs gelingt es, den Druck auf eine größere Fläche zu verteilen. Dadurch wird das Handgelenk besser abgestützt und knickt weniger stark ab.
Dies führt wiederum auch dazu, dass der Nerv im Karpaltunnel weniger exponiert ist und nicht mehr so stark an der Oberfläche der Haut liegt. Gleichzeitig wird die Druckverteilung unterhalb der Mittelhand vergrößert, was dazu beiträgt, den Druck, der sich aufbaut, zu minimieren.
Mit einem Flügelgriff werden also zwei Probleme effektiv gelöst: Zum einen wird das Nervenproblem durch die veränderte Handstellung reduziert, zum anderen wird die Druckspitze unter der Mittelhand verringert. Dadurch können Taubheit und Kribbeln in den Fingerspitzen effizient gelindert werden.
Die richtige Griffeinstellung
Ein weiterer wichtiger Aspekt bei der Vermeidung von Schmerzen beim Greifen betrifft die korrekte Einstellung des Flügelgriffs. Die Positionierung des Flügels kann einen erheblichen Einfluss auf die Stellung der Unterarme und Ellbogen haben, was wiederum Auswirkungen auf die Schultern und den Nacken hat. Wenn die Ellenbogen durchgedrückt und die Schultern dadurch hochgezogen werden, kann dies auf eine falsche Einstellung des Flügelgriffs hinweisen, nämlich wenn dieser zu weit nach unten rotiert ist.
Die Folge davon kann der klassische Nackenschmerz sein, der auch als Schreibtischschmerz bekannt ist, da viele Menschen ähnliche Beschwerden auch durch eine falsche Sitzposition am Computer erfahren. Ein Flügelgriff, wie der Ergon GS1 Evo etwa, ist dann richtig eingestellt, wenn der Neigungswinkel des Flügels eine Beugung des Handgelenks unterstützt, die auf einer Linie mit Unterarm und Ellenbogen liegt. Perfekt erklärt findet ihr diesen, wie auch alle weiteren Einstellungstipps, übrigens im obigen Video.
Ergon Fitting Box Touring – alles muss passen
Wie in vorangegangenen Tipps zur Vermeidung und Erläuterungen zum Ursprung von Schmerzen beim Radfahren schon an der ein oder anderen Stelle ersichtlich wurde, kommt es beim richtigen Einstellen des Fahrrades oder E-Bikes sehr darauf an, dass nicht nur einer, sondern alle drei Kontaktpunkte – Sattel, Griffe und Pedale – perfekt eingestellt sind. Um das auch selber und ohne ein aufwendiges Bike-Fitting von zu Hause aus erledigen zu können, hat sich Ergon die Ergon Fitting Box ausgedacht.
Die Fitting Box Touring ermöglicht eine einfache und präzise ergonomische Einstellung des Fahrrads und dessen Kontaktpunkte ohne Vorkenntnisse in diesem Bereich. Entwickelt von Dr. Kim Tofaute, dem Experten für Fahrrad-Ergonomie und Ergon-Urgestein, hilft die Fitting Box, den Sattel, Lenker und die Pedale auf den Körper abzustimmen.
Sie ist besonders geeignet für Einsteiger, die ihren Fahrkomfort steigern und körperliche Beschwerden vermeiden möchten. Die Anleitungen sind leicht verständlich und decken verschiedene Fahrradtypen ab – ideal für Radfahrende, die häufig fahren, ohne sich tiefergehend mit der Kunst des Bike-Fittings auseinandersetzen zu wollen.
Interview mit Simon Schumacher, Head of Ergonomics bei Ergon
Nimms Rad: Hallo Simon, heute sprechen wir über ein etwas unangenehmes Thema für uns Radfahrer, die im Alltag viel mit dem Fahrrad unterwegs sind, sei es zur Arbeit, zur Kita oder auch mal für eine längere Tour am Wochenende. Welche Schmerzen treten beim Radfahren am häufigsten auf?
Simon Schumacher: Wir haben die Leute zunächst gefragt: Habt ihr überhaupt Schmerzen beim Radfahren? 95 Prozent antworteten mit Ja. Sie klagten über Schmerzen in den Händen, eingeschlafene Füße und Schmerzen unter den Sitzknochen. Von diesen 95 Prozent gaben über 60 Prozent an, speziell beim Sitzen Schmerzen zu haben.
Wie sehen diese Schmerzen im Einzelnen aus?
Da gibt es von unserer Seite drei wesentliche Punkte, die der Sattel lösen muss. Erstens gibt es den Reibungsschmerz, der entsteht, wenn die Außenkontur des Sattels nicht gut passt oder die persönliche Anatomie hinderlich ist. Zweitens gibt es den klassischen Sitzknochenschmerz, der auftritt, wenn die Druckverteilung des Sattels nicht homogen genug ist, sodass der Körper damit umgehen kann.
Drittens sind Schmerzen an den Genitalien oder Taubheit im Genitalbereich ein großes Problem. Wichtige Venen und Arterien verlaufen genau in der Mitte des Beckens. Wenn diese vom Sattel gequetscht werden, können Taubheitsgefühle und andere Probleme auftreten. Das ist dann ein Showstopper, den wahrscheinlich viele von uns schon einmal erlebt haben.
Ihr entwickelt Produkte, um diese Schmerzen zu bekämpfen. Wie geht ihr diese drei großen „Pain Points“ – im wahrsten Sinne des Wortes – an?
Ja, genau, wir sind dafür da, die Produkte an den Menschen anzupassen. Das machen wir auch in meiner Abteilung, der Ergonomieabteilung. Da geht es darum, einen gemeinsamen Nenner zu finden, mit dem viele Menschen gut leben können. Das heißt, wir machen selbst Studien in unserer Abteilung, wo wir Probleme identifizieren, die wir mit einem wissenschaftlichen Aufbau versuchen zu lösen, und diese Features kommen dann bei uns in den Sattel.
Was für besondere Features am Fahrradsattel sind damit gemeint – kannst du uns da ein Beispiel geben?
Unsere Geschlechtsspezifität entstand durch eine Studie von 2014, in der wir mittels CT-Scans verschiedene Beckenformen und Beckenkippungen untersuchten. Dabei stellten wir fest, dass Frauen anatomiebedingt weniger Platz für versorgende Gefäße haben. Daher muss der Entlassungsbereich bei Damen anders gestaltet werden.
Wir haben herausgefunden, dass die Beckenkippung bei Frauen beim Radfahren weiter nach vorne rotiert, was die Genitalproblematik verstärkt. Natürlich haben auch Männer unterschiedliche Anatomien und Sitzprobleme. Wenn wir jedoch die Sattelform genau auf die Geschlechter abstimmen, profitieren beide davon. Durch die Optimierung der Druckverteilung auf die jeweilige Anatomie werden die Probleme insgesamt reduziert, was für beide Geschlechter von Vorteil ist.
Okay, spannend. Wie sieht das dann konkret am Produkt aus – wie geht ihr da auf die Geschlechtsspezifika ein?
Ich habe hier zwei Beispiele unserer Fitness-Sättel: Der Frauensattel hat einen sogenannten Cutout, ein Loch, während der Männersattel einen länglichen Entlastungskanal besitzt.
An sehr unterschiedlichen Stellen.
Genau, an sehr unterschiedlichen Stellen. Frauen rotieren ihr Becken weiter nach vorne, daher muss die Entlastung des Sattels eher im vorderen Bereich stattfinden. Der Nachteil eines Cutouts ist, dass man ein gutes Verhältnis zwischen Entlastung und belasteter Fläche finden muss. Deshalb befindet sich die Entlastung im vorderen Teil des Sattels, während der hintere Teil so optimiert ist, dass er eine gute Fläche bietet.
Bei Männern ist es anders. Sie sitzen tendenziell aufrechter, weshalb wir die Entlastung im vorderen Bereich minimieren und dort mehr Fläche schaffen. Die Entlastung wird in den hinteren Bereich, den Dammbereich, verlagert, wo Männer höheren Druck ausüben. So können wir mit zwei unterschiedlichen Entlastungskonzepten eine optimale Druckverteilung für Frauen und Männer schaffen.
Und das geht dann direkt diesen drei Pain Points, die du eingangs genannt hast, an die Gurgel oder spielt da die Einstellung des Sattels auch noch eine Rolle?
Ja, definitiv. Wir sind stark von der grundlegenden Einstellung des Sattels abhängig, Stichwort: Bike Fitting. Sitzhöhe und Sattelneigung haben großen Einfluss auf die Funktionalität des Sattels. Wenn wir es standardisieren, gehen wir von einer optimalen Sitzhöhe aus. Die Feinheiten, wie der Sattel von der Nase nach hinten verläuft und die Sattelüberwölbung, werden auf die männliche und weibliche Anatomie abgestimmt, indem wir diese an großen Testpools von Männern und Frauen vertesten. So optimieren wir die Entlastung vorne und hinten entsprechend der Geschlechter.
Spannend! Gut, das war also das Thema Sitzen und Poschmerz. Kann sich ein falscher Sattel oder eine falsche Einstellung auch noch auf andere Bereiche des Körpers negativ auswirken?
Ja, leider. Ein falscher Sattel oder eine falsche Einstellung kann sich negativ auf den unteren Rücken auswirken. Das Kreuzbeingelenk im unteren Rücken kann sich versteifen, was eine klassische Sitzkrankheit ist. Durch unser buckliges Sitzen wird die Muskulatur dauerhaft überdehnt und verliert an Flexibilität.
Und wie geht ihr dagegen vor?
Wir haben ein Sitzkonzept entwickelt, das den unteren Rücken entlasten soll. Die Satteloberfläche passt sich der Kippbewegung des Beckens beim Pedalieren an, um das Kreuzbeingelenk zu mobilisieren. Dadurch können Rückenschmerzen im unteren Rücken, die oft durch falsche Alltagsbelastungen entstehen, kompensiert werden. Dieses Konzept ist vom AGR (Aktion Gesunder Rücken e.V.) als rückenschonend zertifiziert.
Unsere Nutzer berichten, dass diese spürbare Bewegung den unteren Rücken entlastet. Ein zusätzlicher Vorteil ist, dass der Sattel durch diese Bewegung die Druckspitzen auf den Sitzhöckern beim Pedalieren glättet.
Wie schafft der Sattel das? Sind da irgendwelche Sprungfedern drin?
Ja, man kann es tatsächlich als eine Art Feder bezeichnen. Wir verwenden ein spezielles Material namens Corematerial, genauer gesagt E-TPU Infinergy von BASF. Dieses Material dient als vollflächiger Dämpfer auf der unteren Schale des Sattels. Es gibt eine kleine, tragende untere Schale, darauf sitzt das Corematerial, und oben drauf eine obere Schale, die den Druck gleichmäßig unter dem Sitzschaum verteilen soll.
Das Corematerial hat einen sehr hohen Rebound, also eine hohe Rückschnellkraft. Bewegungen, die das Material aufnimmt, werden zunächst ausgeglichen und dann schnell wieder kompensiert. Dadurch unterstützt der Sattel diese Bewegungen aktiv.
Sehr ausgeklügelt, cool!
Du hast gesagt, etwa 60 Prozent haben beim Sitzen Probleme – was ist mit den restlichen 40 Prozent? Wo drückt da der Schuh?
Da drückt die Hand. Viele Menschen klagen über taube Finger, was ebenfalls einen medizinischen Grund hat. Auch hier geht es um Druckverteilung, ähnlich wie beim Sitzen. Die stützende Haltung der Hände beim Radfahren ist für den menschlichen Körper nicht ideal.
Die Handfläche ist im Verhältnis zum Gesamtkörper relativ klein, wodurch beim Stützen auf den Lenker ein sehr hoher Druck entsteht. Dieser Druck wird unter der Mittelhand besonders hoch. Anatomisch ist die Mittelhand nicht dafür ausgelegt, solchen Druck auszuhalten. Viele haben schon vom Karpaltunnelsyndrom gehört – die Nerven laufen direkt unter der Mittelhand durch. Wenn Druck auf den Lenker ausgeübt wird, wird der Nerv komprimiert, was zu tauben Mittelfingern, Zeigefingern und Daumen führt.
Der andere große Nerv, der beim Greifen eine Rolle spielt, verläuft an der Außenseite der Hand und ist für den Ring- und kleinen Finger zuständig. Je nach Handhaltung schlafen dann entweder die kleinen Finger und Ringfinger oder die anderen drei Finger ein.
Hier kommt es also auf die richtige Druckverteilung an. Wie kann man das mit Griffen lösen? Das stelle ich mir jetzt sehr kompliziert vor.
Die Lösung besteht darin, den Druck auf eine größere Fläche zu verteilen – Stichwort Flügelgriff, das Produkt, mit dem Ergon vor 20 Jahren gestartet ist. Durch die ergonomische Form des Flügelgriffs stützen wir das Handgelenk besser ab, sodass es nicht mehr so stark abknickt. Dadurch wird der Nerv weniger exponiert und die Druckverteilung unter der Mittelhand vergrößert.
So werden zwei Probleme gelöst: Der Nerv liegt weniger stark an der Oberfläche der Haut, und der Druck, der sich aufbaut, wird durch die größere Fläche minimiert. Dadurch wird die Taubheit und das Kribbeln in den Fingerspitzen effizient reduziert.
Das ist das eine. Das zweite Thema ist die Einstellung. Je nachdem, wie der Flügel am Flügelgriff positioniert ist, beeinflusst dies die Unterarm- und Ellenbogenstellung und damit den Nacken. Wenn man beim Fahren die Schultern hochzieht und die Ellenbogen durchdrückt, ist der Flügel zu weit nach unten eingestellt. Die Folge ist der klassische Nackenschmerz, den ich „Schreibtischschmerz“ nenne, weil viele Menschen auch so am Computer sitzen.
Klasse, vielen Dank für diese vielen spannenden Infos und Tipps, Simon!
Mit welchen Schmerzen hattest du auf dem Fahrrad schon zu kämpfen?