Es kann viel passieren, wenn du das Rad nimmst. Auf dem Weg, im Kopf, am Ziel. In unserer Rubrik schreiben unsere Redakteur*innen und Autor*innen, was sie beim ganz alltäglichen Radfahren gedacht und gemacht haben, worüber sie gelacht haben und worüber einem beim Radnehmen so richtig das Lachen vergehen kann. Heute nimmt Tobias den Fahrradanhänger.
Irgendwann während meines Auslandssemesters in Südafrika hatte ich eine seltsame Diskussion mit meinem einheimischen Vermieter. Er hatte sich bereits nach wenigen Tagen als leidenschaftlicher Mountainbiker zu erkennen gegeben, was mir beim Anblick seiner Garage schon beim Einzug klar gewesen war. Ein aktuelles Trek Madone, ein altes GT Zaskar quasi original. Diverse Startnummern über der Werkbank in der Garage. Wir würden schnell miteinander warm werden, dachte ich mir.
Allein: wir hatten grundsätzlich verschiedene Vorstellungen vom Fahrradfahren an sich. An sich waren wir uns einig, dass schmale, kurvige Singletrails an entlegenen Gipfeln und atemberaubenden Landschaften (und Anstiegen) wohl das Salz in der Suppe des Lebens sind. Dass ab und zu ein Rennen einfach nötig ist, um die eigenen Fähigkeiten im Wettkampf zu kalibrieren. Doch als ich eines Morgens fragte, ob er wohl ein Fahrrad für mich hätte, damit ich zur Sportveranstaltung der Universität fahren konnte, erklärte er mich für mehr oder weniger bekloppt. Südafrika, die Sicherheit; mit dem Fahrrad irgendwo hinfahren. Es als Verkehrsmittel nutzen – unvorstellbar. Für ihn konnte man immer nur Fahrrad fahren, wenn man davor mit dem Auto zu einem Ort gefahren war, an dem das Fahrrad einzusetzen wäre. So verschieden kann die Ausübung des schönsten Hobbies der Welt sein.
Wann genau das Fahrrad für mich zum Fortbewegungsmittel der Wahl wurde? Vermutlich hat das etwas damit zu tun, dass ich in einem Dorf mit kaum 700 Einwohner*innen aufgewachsen bin und der Bus, wenn dann nur im Stundentakt gefahren ist. Und natürlich nicht dahin, wo ich eigentlich hin wollte. Sieben Buslinien hatten wir, später acht. Doch mein Fahrrad fuhr immer und überall hin. Und dank direkterer Wege häufig gar nicht mal wirklich langsamer, als der Bus – auch in die nahegelegene Stadt.
Die Flexibilität, die frische Luft (ok, mit Abstrichen…), der Schwung im Kreislauf. Zu viele gute Gründe sprechen für das Fahrrad in der Stadt.
Fürs Studium zog ich nach München. Kulturschock. Mein gesamtes Dorf passte hier in einen Wohnblock, die Entfernungen umspannten weit mehr als die große Kreisstadt meiner Kindheit. Sechs U-Bahn-Linien, acht S-Bahnen, hunderte Busse und Trambahnen. Meistens alle zehn Minuten, zu den Stoßzeiten eher noch öfter. Mein Fahrrad bin ich trotzdem gefahren – täglich in die Uni, entweder in die Innenstadt oder auf den Forschungs-Campus nach Garching. Ich habe mich in meiner Kindheit und Jugend so daran gewöhnt, dass ich es mir tatsächlich nicht mehr anders vorstellen kann. Die Flexibilität, die frische Luft (ok, mit Abstrichen…), der Schwung im Kreislauf. Zu viele gute Gründe sprechen für das Fahrrad in der Stadt.
Und: auch in München bin ich noch schneller als der Verkehr. Die Unterschiede sind sogar noch größer, denn anstelle von offenen Landstraßen gab und gibt es hier den Auto gewordenen Verkehrsinfarkt. Mein Lieblingsbild waren jedoch immer die BMW-Mitarbeiter*innen: sie entwickeln, produzieren und fahren die Fahrzeuge, mit denen sie ihre Lebenszeit im Stau zur Arbeit verbringen und sich gegenseitig anhupen, wenn einer nicht sofort bei grün losbrettert oder es wagt, schon bei Orange anzuhalten. Einer muss doch immer noch über rot an der Todeskreuzung vom Frankfurter Ring Ecke Schleißheimerstraße. Und es könnte doch viel besser sein. Im Jahr 2022 ist die selbst ernannte Radl-Hauptstadt weit davon entfernt, ein guter Ort für Fahrradfahrer*innen zu sein. 2009, als meine Reise dort begann, war sie es noch viel weniger.
Heute verdiene ich mein Geld als Berater für die Automobilindustrie. Wir versuchen in den letzten Jahren, unseren Kunden aufzuzeigen, dass nachhaltige Mobilität kein links-grüner Luxus, sondern die Innovationsherausforderung unserer Zeit ist. Nicht gerade einfach, wenn viele Firmen weiter versuchen, in bestehenden Denkweisen „Innovation“ durch mehr Leistung, größere Außenabmessungen und digitale Lösungen, die unsere Smartphones schon vor zehn Jahren besser konnten, zu treiben. Und wenn die eigene Geschäftsführung doch einigen Wert auf den Erhalt des eigenen Senator-Status‘ legt.
Doch es tut sich etwas. Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine könnte als schrecklicher Katalysator womöglich bei all dem Leid zumindest einen einzigen positiven Nebeneffekt haben: Wir sind ohnehin schon extrem spät dran, aber wir können und müssen jetzt (endlich) im großen Maße Geld in erneuerbare Energien stecken, sowie klimaschädliche Subventionen (Grüße an den Tank-Kommunismus der FDP…) und Regelwerke (Grüße an die CSU, Horst Seehofer, Markus Söder und ihre 10H-Regel) abbauen. Denn der Wandel bei den Mobilitätsgewohnheiten wird länger dauern, als der bei der Energieversorgung. Die ist den Meisten von uns nämlich herzlich egal, solange sie nicht zu teuer oder gar knapp ist.
Auch unter den Leuten tut sich etwas. Als guter Wahl-Münchener muss ich erneut BMW heranziehen. Freunde, die bei BMW arbeiten, haben ihr gottgegebenes Recht, im BMW-Stau zu stehen und das BMW-Parkhaus zu bevölkern, gegen eine kostenlose Monatskarte getauscht. Doch auch sie fahren zumindest bei erträglichem Wetter Fahrrad, denn das Fahrrad gewinnt. In seiner Reinform ohne Elektromotor ist es im Verhältnis von Geschwindigkeit zu Gesundheit und Nachhaltigkeit im urbanen Raum nicht zu schlagen. In elektrifizierter Form wird es sogar noch mehr zum Verkehrsmittel Nummer Eins. Auch wenn ich persönlich keinen Nutzen aus einem Elektrorad ziehen würde. Schließlich senkt der Elektromotor die Hürde der körperlichen Ertüchtigung, die sonst selbst bei bestem Wetter die konsequenten Bewegungsmuffel vom Radfahren abhält.
Egal was kommt, das Fahrrad wird Teil seiner Zukunft sein. In seiner bestechenden Einfachheit hat es noch immer gewonnen – wenn auch oft im Leisen und Kleinen.
Seit Ende 2020 bin ich Vater. Inzwischen fahre ich meinen Sohn jeden Morgen zu unserer Tagesmutter, wo er mit anderen Draufgänger*innen spielt und sich des Lebens freut. Unser morgendlicher Weg beträgt in jeder Richtung gut vier Kilometer und im Grunde ist es wie zu meiner Schulzeit. Nur besser, denn ich bin immer schneller als der Verkehr. Auch mit Fahrradanhänger. Seitdem ich von zu Hause ausgezogen bin, ist mein Anteil an Fahrstrecke mit dem Mountainbike Jahr für Jahr gesunken. Ich träume weiter – wie mein südafrikanischer Vermieter – von Singletrails und Abenteuern in den Alpen (zu denen ich nur in der Ausnahme mit dem Fahrrad anreise), doch heute ist das Fahrrad für mich mehr denn je das Verkehrsmittel der Wahl.
Spätestens, wenn ich neben mir die sich langsam vorwärts-schiebende Blechlawine ins Bewusstsein rufe und die Verkehrswegehelfer*innen grüße, die uns Fahrradfahrer*innen und alle Fußgänger*innen vor am Smartphone abgelenkten SUV-Pilot*innen beschützen, dann weiß ich, wie gut ich es eigentlich habe. Dank Fahrrad, gerade auch wegen des Anhängers. Mit Anhänger fahre ich langsamer und gleichmäßiger. Ich höre den kleinen hinten Brabbeln und erste Wörter formen. Wenn es ruhig wird, weiß ich, dass er eingeschlafen ist. Und wie auch immer seine Zukunft aussehen wird. Ob wir es rechtzeitig schaffen, unsere Konsum- und Mobilitätsgewohnheiten so zu verändern, dass wir auf diesem Planeten überleben können. Egal was kommt, das Fahrrad wird Teil seiner Zukunft sein. In seiner bestechenden Einfachheit hat es noch immer gewonnen – wenn auch oft im Leisen und Kleinen. Gerade das macht es so unschlagbar. Ich muss schmunzeln!
Alle Artikel unserer Kolumne findet ihr hier:
- Tobias nimmt’s Rad – und den Tesla: Wie kommt die Fahrrad-Mobilität mit in den Urlaub?
- Laurenz nimmts Rad: … und fährt zur Kidical Mass
- Fahrradparkhaus Eberswalde in Brandenburg: Zukunft aus Holz für 600 Fahrräder
- Neue Verbote für den Radverkehr: Tempolimit, Lärmschutz – was kommt als Nächstes?
- Stefanus nimmts Rad: Eine Ode ans Pendeln mit dem Fahrrad